Altern in Würde

Ich, und damit auch mein Freundes- oder Familienkreis, sind jetzt in einem Alter, in dem das Sterben häufiger zum Thema wird, weil die Generation vor uns in dem Alter ist, in dem „man stirbt“. Gezwungenermaßen müssen wir uns über Heimplätze, Pflegedienste, Lebensqualität, würdevolles Sterben, Vorsorgevollmachten etc. unterhalten, uns informieren und Entscheidungen für unsere Eltern treffen, wenn diese es nicht mehr können. Häufig ist dies eine Gradwanderung, deren Grenze sich immer wieder neu verschiebt, je nach körperlichem und geistigem Befinden der älteren Generation. Heute noch fit und fähig, im eigenen Haus zu bleiben, morgen schon tütelig und nicht mehr in der Lage, selbst zu kochen oder selbst auf die Toilette zu gehen, geschweige denn eine Entscheidung zu treffen, ob jetzt doch ein Pflegeheim notwendig wird oder noch nicht.
• Wie weit darf ein Kind in der Entscheidung über die Eltern betreffende Angelegenheiten gehen? Wo ist die Grenze zur Entmündigung oder eben zur Fahrlässigkeit?
• Wann ist diese Entscheidung zu fällen? Wenn ein Elternteil zum 5. Mal gestürzt und ins Krankenhaus gekommen ist? Oder schon präventiv, obwohl die Eltern unbedingt noch in ihrer Wohnung bleiben wollen?
• Wie oft wird eine solche Entscheidung wieder rückgängig gemacht, weil sich die Parameter ändern? Heute mit Pflegepersonal im eigenen Haus, dann doch krank und reif für das Krankenhaus, dort werden sie entlassen…. wohin? Zu Hause geht (noch) nicht, also Tagespflege, Reha-Klinik. Es gibt viele gute Einrichtungen, aber dieser ständige Wechsel, ist das die Ruhe des Alters, in dem man sich auf das Sterben vorbereiten möchte?
• Hier setzt die Frage nach der Lebensqualität an: ist das Hin- und Her, dem ein alter oder kranker Mensch ausgesetzt ist, wenn er einmal in das „Hamsterrad“ des Wechsels zwischen den verschiedenen Pflegeeinrichtungen geraten ist, noch einem Leben würdig? Bringt die Verlängerung des Lebens gepaart mit ständigen Krankenhausaufenthalten denn wirklich Lebensqualität oder nur Lebenszeit?
 
Wir Kinder werden im Laufe der Zeit zu Eltern unserer Eltern: Sie können (und wollen irgendwann) nicht mehr alles allein entscheiden. Und wir wollen doch nur ihr Bestes. Und im Krankenhaus, Pflegeheim u.a. sind sie doch sicherer, besser versorgt, nicht allein…. Doch unsere Eltern werden wie Kinder, sie leisten Widerstand:
 
• „Ach, natürlich kann ich noch Autofahren, das ist die einzige Freiheit, die mir noch bleibt! Ich weiß schon, wann ich aufhören muss.“
• „Und wenn es zu Hause nicht ganz so blitzblank ist, macht doch nichts, jedenfalls kommt mir keine fremde Person (z.B. Putzfrau) ins Haus!“
• „Nein, in eine kleinere ebenerdige Wohnung ziehe ich nicht um, ich will hier wohnen bleiben, wir können doch einen Treppenlift einbauen und um den Garten kann ich mich noch kümmern!“
Eines ist klar: alle wollen am liebsten zu Hause sterben, auch wir, doch die wenigsten schaffen es. Einfach zu Hause zu sterben, wie es früher häufig war, ist heutzutage schwieriger, weil unser Körper weit länger am Leben erhalten werden kann. Wir haben eine sehr gute medizinische Versorgung und viele Hilfsangebote in unserer Gesellschaft und doch ist das Sterben ein schwieriges Thema, ein Tabuthema, mit dem wir uns nicht beschäftigen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Doch es geht eben nicht nur um den Erhalt der Körperfunktionen, sondern auch um ethische Fragen, die mit dem Themenkomplex verbunden sind. Es geht um unsere Angst, sich dem Thema auch schon vor dem entsprechenden Alter zu stellen. Wir stehen ziemlich alleine da, denn auch bei Politik und in Talksendungen ist das Thema nicht quotenwürdig. Doch schauen wir mal auf die Zahlen: 2,7 Prozent betrug im Jahr 2018 allein der Anteil der deutschen 85-Jährigen und Älteren, das sind knapp 2,3 Millionen Menschen. (Quelle: Wikipedia) Und vergessen wir nicht: die heutige Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen stellt mit 16,2 Prozent (2018) den größten Anteil an der Gesamtbevölkerung in Deutschland. Das heißt, in einigen Jahren werden ca. 16 % unserer Gesamtbevölkerung in dem Alter sein, in dem „man stirbt“. Vielleicht doch eine Zielgruppe, um die es sich zu kümmern lohnt???